Dr. Johannes Richert, Konventionsbeauftragter im DRK-Landesverband Brandenburg e.V., schreibt regelmäßig eine Kolumne für diesen Blog. Hier widmet er sich dem 75-jährigen Jubiläum der Genfer Abkommen von 1949, die als Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts gelten.
Mit der Schlacht von Solferino und dem Wirken Henry Dunants nahm es seinen Anfang und wirkt neben der Gründung des Roten Kreuzes bis heute nach: der Versuch der Staatengemeinschaft, durch Schaffung von Recht die Grausamkeiten von Kriegen und sonstigen bewaffneten Konflikten zu domestizieren und zu lindern.
Zur Entstehung und Entwicklung des humanitären Völkerrechts
Von 1864 bis 1949 wurde das Kriegsvölkerrecht in humanitären Fragen weiterentwickelt, fast immer aus der Erfahrung vorhergegangener Kriege heraus. Mit den vier Genfer Abkommen, ergänzt um die Zusatzprotokolle von 1977, müssen daher in bewaffneten Konflikten verwundete und erkrankte Soldaten der Land-, Luft -und Seestreitkräfte, die nicht mehr an Kampfhandlungen beteiligt sind, Schutz erhalten und geschont werden.
Mit dem dritten Genfer Abkommen wurde insbesondere der humanitäre Umgang mit Kriegsgefangenen geregelt. Schließlich wurde nach dem 2. Weltkrieg mit dem Genfer Abkommen von 1949 auch noch der Schutz der Zivilbevölkerung in das Humanitäre Völkerrecht aufgenommen. Die Zusatzprotokolle von 1977 erweitern diesen Schutz auch auf Bürgerkriegssituationen mit irregulären bewaffneten Konfliktparteien und beschränken den Gebrauch spezifischer Waffen.
Regeln wahren Mindestmaß an Humanität im bewaffneten Konflikt
Es gibt also umfangreiche Regeln, die im bewaffneten Konflikt ein Mindestmaß an Humanität walten lassen. 192 Staaten haben die Genfer Abkommen ratifiziert und infolgedessen auf ihrem Staatsgebiet eine Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaft zur Hilfsgesellschaft gemäß Genfer Abkommen gemacht.
Genfer Abkommen nach wie vor wirksam
Wie aber sieht heute die Welt aus? Die Hoffnung auf anhaltenden Frieden ist einer traurigen Realität gewichen. Die blutigen Konflikte im Sudan, dem Niger, in Somalia, in Myanmar, im Nahen Osten, aber auch in unserer Nachbarschaft zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine, um nur einige der derzeit 49 Konflikte weltweit zu nennen, legen Zeugnis davon ab, wie das Humanitäre Völkerrecht an seine Grenzen kommt. Es wird vielerorts gebrochen, die Zivilbevölkerung wird als Geisel benutzt, Aushungern und Vorenthalten von Hilfen werden als Waffe eingesetzt. Selbst humanitäres und zu schützendes Personal ist nicht immer sicher.
Dies vor Augen sprechen viele von einem Versagen der Genfer Abkommen und deren Unwirksamkeit. Aber sind Recht und Gesetz deswegen obsolet, weil sich nicht alle daran halten? Die registrierten Gewalttaten in Deutschland nahmen von 2023 bis heute um 8,6 Prozent auf rund 200.000 zu, im Jahr zuvor gab es eine Steigerung um 19 Prozent. Stellen wir deshalb unser Strafgesetzbuch in Frage?
Es lohnt der Blick auf die tägliche Arbeit von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond
Dies lässt sich übertragen auf die Genfer Abkommen. Wir sehen meist nur die Verstöße. Es gibt aber unzählige Fälle, in denen es tagtäglich eingehalten wird. Allein, dass wir als Rotes Kreuz und Roter Halbmond unter der Leitung des IKRK täglich in fast allen Konflikten dieser Welt arbeiten können, dass Gefangene besucht werden und der Internationale Suchdienst seine Arbeit verrichtet, sind Belege, dass doch vieles noch funktioniert. Auch bewies die Internationale Rotkreuzkonferenz im Oktober 2024, dass ein Dialog mit allen Signatarstaaten der Genfer Abkommen zu humanitären Themen in diesem Format noch möglich ist.
„Wir sollten alles daran setzen, die Genfer Abkommen als kleinsten gemeinsamen Nenner der Humanität zu erhalten.“
In einem geopolitischen Umfeld, in der die Vereinten Nationen an Gewicht verlieren, in dem eine regelbasierte internationale Ordnung zugunsten des „Rechts des Stärkeren“ mutiert und wesentliche Akteure nicht bereit sind, sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterstellen, sollten wir alles daran setzen, die Genfer Abkommen als kleinsten gemeinsamen Nenner der Humanität zu erhalten und das Wissen um sie stärken. Viele Verstöße geschehen aus Unwissenheit. Dem können wir mit einer adressatengerechten Verbreitungsarbeit begegnen.
Es gibt also nach 75 Jahren Genfer Abkommen von 1949 keinen Anlass zur Verzweiflung, aber Anlass genug, wachsam zu sein.
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